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  • AutorenbildLeonie Rettig

Ein längst verhalltes Echo

Zur Bundestagswahl 2017


Da ist er wieder, der ewig mahnende und in den letzten Tagen häufig erbrachte Hinweis auf das einst so unumstößlich wirkende “Nie wieder”. “Nie wieder” klingt in diesen Tagen wie ein längst verhalltes Echo aus lang vergangen Zeiten, verblasster Erinnerungen. Nie wieder ist vorgestern, denn wir sind schon wieder auf dem Weg zurück, was uns die Wahl am 24. September unverkennbar vor Augen geführt hat. Was also fehlt in diesem Land, dass knapp 5.9 Millionen Menschen einer rechtspopulistischen Partei zu neuem Emporsteigen verhelfen und ihr mit 12,6% Gehör und Zuspruch schenken?


Betrachtet man Deutschland heute und in den letzten Jahren gibt es im Allgemeinen nicht viel, wofür man kämpfen, ein zugefügtes Leid beenden oder gar eine Nation wiederaufbauen, aus Trümmern zusammenflicken, aus den Fesseln politischer Tyrannei retteten muss. Und doch: Es gibt hier Leid. Bis zu 19% Kinderarmut. 16,2% Altersarmut. Bis 2018 ein prognostizierter Anstieg der Zahl wohnungsloser Menschen auf 536.000. 2,6 Millionen Arbeitslose. In der Fleischindustrie herrschen sklavenähnliche Zustände (siehe Artikel in der Zeit (17. November 2014), der SZ (23. Juni 2013, etc.). Das im Juni 2017 verabschiedete “Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft” erscheint auf diesem Hintergrund mehr als notwendig.

Um es bei diesen Beispielen einer langen Liste zu verbessernder Strukturen zu belassen: es gibt es also, das Leid, von dem es sich zu befreien gilt; die Missstände, die wir aufdecken, angehen und beseitigen müssen. Aber es sind nicht diese Missstände, die manche Menschen in die Arme einer AfD treibt. Die Frage ist also, was fehlt? Oder müssen wir fragen: wovon haben wir zu viel, was haben wir? – Ginge es nach Erich Fromm, könnte man frei interpretiert konstatieren, dass es sowieso nicht um die Frage des Habens, sondern mehr um die des Seins geht. Wir besitzen vielleicht ein Auto, haben tun wir allerdings nichts. Wir sind. Menschen, Bürger, Eltern, Kinder, Nachbarn, Nachfahren.

Den Islam und nicht den Islamismus, den radikalen Islam, als generelle Gefahr zu beschreien, erscheint mir schon fast wie ein stellvertretendes Syndrom zu sein, ein dem Überfluss folgender Überdruss. Warum hinterzieht man Steuern, wenn man doch schon alles hat. Um aus Millionen Milliarden zu machen? Also aus Gier? Wir haben doch alles und somit die Mittel, zu helfen. Was soll uns weggenommen werden, von „den Moslems“, „den Juden“, den vermeintlich „Anderen“? – Meins, meins, meins. Wenn wir ohne all das „meins“ nichts mehr sind, dann wäre das, bei allem Respekt, ein Armutszeugnis. Es geht nicht darum, was oder wie viel wir besitzen, sondern wer wir sind. Es ist also auch nicht per se falsch, ein „wir schaffen das“ als Leitfaden vorne anzustellen.

Das dabei die Kommunikation über das hinter dem Leitfaden unübersichtliche „wie“ von absoluter Notwendigkeit ist und gewesen wäre, man besser ein Team mit transparenter Aufgabenteilung und Zielformulierung hätte vorneanstellen sollen, ist sicherlich ein Teil der großen Unsicherheit und undefinierbaren Angst, die von vielen dieser Wähler zum Ausdruck gebracht wird. Das viele Menschen in diesem Land mit der Politik der letzten Jahre unzufrieden sind, ist offensichtlich. Das auch die Kommunikation über die Flüchtlingspolitik nicht optimal war und die Unsicherheit der Bevölkerung dadurch verstärkt wurde, ist noch nachvollziehbar. Aber die Entscheidung, eine offensichtlich rechtspopulistische Partei zu unterstützen rechtfertigt es nicht. Wir können helfen, weil wir viel haben, wir können geben, denn wir sind ein wohlhabendes Land. Geld, Besitztümer und Luxus kommen und gehen. Der kulturelle, der innere Reichtum bleibt. Und darauf gilt es, sich zu besinnen.


Der Gedanke an die Herkunft und die Frage nach der eigenen Identität, die dem ureigensten Wunsch des Menschen nach Zugehörigkeit entspringt, drängt sich mir in diesen Tagen wieder auf, wenn von gewissen Politikern zu hören ist “Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen”. In meinen Ohren klingt das wie eine Drohung, eine Kampfansage. Eine Kampfansage an alle, die die AfD nicht unterstützen, an uns, die 87%. Ich fühle mich bedroht, und habe die Frage im Ohr, ob ich nun deutsch genug für deren Deutschland bin oder nicht. Ob ich dazugehöre, zum „deutschen Volk“. Mein Leben lang beantwortete ich diese Frage mit nein. Ich habe einen deutschen Pass, aber ich bin Tochter dieser Erde. Weltenbürgerin. Zuhause, wo auch immer ich mich gerade befinde, mit wem auch immer ich mich gerade unterhalte. Ich bin hier aufgewachsen, doch meine Heimat ist die Welt, Menschen, Orte. Erlaube ich mir, die besorgniserregenden Gedanken und Anzeichen bis zum bitteren Ende fortzuspinnen, so ist vielleicht auch für mich hier in Deutschland eines Tages kein Platz mehr. I don’t want to make Germany great again. Deutschland ist groß, toll, und kann auf eine Jahrhundertealte Kultur und Erkenntnisse und Erfindungen zurückblicken. Dennoch bin ich nicht stolz darauf, deutsche zu sein, auf die Errungenschaften, die andere zum Wachstum dieses Landes beigetragen haben, sondern freue mich, in einem Land so reich an Kultur und Wissenschaft aufwachsen zu dürfen. Wir leben hier in Deutschland doch nicht nach deutschen, sondern, wenn überhaupt, nach christlichen Werten, bzw. nach allgemeingültigen und in jeder Kultur und Religion gelebten Umgangsformen des gegenseitigen Respekts, der Liebe, dem Verlangen nach menschlichem Miteinander, und danach, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, zu arbeiten, zu leben, zu entdecken, zu geben und zu nehmen.

Es gibt Unterschiede, die offensichtlich zu so etwas wie nationalem Stolz führen können. Seien sie kultureller Natur, kulinarischer Natur, klimatischer Natur oder traditioneller Natur. Betrachtet man diese aber näher, fallen einem doch wieder Zusammenhänge auf. Erst neulich wieder fiel mir ein solcher Zusammenhang auf, ein kleiner, dennoch interessanter. Es handelt sich um des Argentiniers liebstes Karamell, dulce de leche. Im Jahre 2003 hegte Argentinien sogar den Wunsch, diese Süßspeise bei der UNESCO als Weltkulturerbe eintragen zu lassen. Ich brachte es meinem besten Freund – vom uzbekischen Passbesitzer zum Kontingentflüchtling zum deutschen Passbesitzer – als kleines Geschenk mit und war durchaus erstaunt, als er mir mit strahlenden Augen verkündete, es schmecke nach Kindheit. ¬– Wie, dachte ich, das ist doch das inoffizielle Nationalgericht Argentiniens … Und dann fiel mir noch ein, dass es in Frankreich die der Normandie zugeschriebene Spezialität, confiture de lait gibt. Wie in Argentinien, gab man also tausende von Kilometern weiter östlich den Kindern die gleiche Köstlichkeit, ohne davon zu wissen.


Wenn mir also ein Unterschied einfallen soll, der Nationen von einander unterscheidet, dann ist es wohl am ehesten der des Umgangs. Wie viele Fettnäpfchen es zum mit Anlauf hineinhüpfen in den 194 Staaten zu umgehen gilt, kann ich gar nicht beginnen aufzuzählen. Es sind unzählige. Es gibt Unterschiede, aber es gibt kein, bzw. sollte kein Wir und Ihr daraus wachsen.

Um also den weiten Bogen um alle hier geschriebenen Umwege wieder zurück zum Eingang zu schlagen: Wenn eine Partei versucht, jene Unterschiede als Abgrenzung, Schutz, Besinnung auf das Reine, das Wahre, das Wir zu verkaufen; versucht, die Unsicherheit einiger um der Macht willen auszunutzen und zu manipulieren; der Berliner AfD-Abgeordnete Thorsten Weiß Berichten der vice zufolge Parteien, Firmen, Vereine auf ihre „Linkslastigkeit“ (bisher erfolglos) überprüfen und bei positivem Befund der Fördergelder berauben möchte; Israel den jüdischen Bürgern Deutschlands die Alija, die Auswanderung nach Israel, sogar schon nahelegt – was den muslimischen Bürgern momentan verwehrt ist, denn, sehr geehrter Herr Höcke: der aus tiefster Not und nicht allgemeiner Reiselust zu uns gekommene Syrer hat es eben nicht mehr, „sein Syrien“. Wenn nicht der Islamismus, sondern die gesamte Religion Islam zum Feindbild stilisiert wird, dann ist das nicht 2017, sondern 1933. Dann ist das keine Alternative, sondern der direkte Weg zurück: Rassendenken, Klassendenken, Wahnsinn und Unglück. Diesen Samen, der mit dem Ergebnis von 12,6% in den deutschen Bundestag einzieht und damit seine erste bundesweite politische Wurzel geschlagen hat, gilt es, am Wachsen zu hindern. Es gilt, ihn daran zu hindern, aus Wurzeln einen Stiel und aus einem Stiel Stacheln zu bilden. Stacheln, Zäune, Mauern. Mir scheint, nach den Äußerungen direkt nach der Wahl zu urteilen, der Wolf im Schafspelz sei zu seiner wahren Gestalt zurückgekehrt und das Schaf nur die Lightversion gewesen. Wenn dem so ist, steht uns ein langer und wichtiger Weg bevor, diesen Samen wieder vertrocknen zu lassen.


Ich bin gerne in Deutschland aufgewachsen und fühle mich angegriffen, wenn die Rede davon ist, sich das „deutsche Volk“ wieder zurückzuholen. Es wurde und wird niemandem weggenommen. Wenn überhaupt, ist es, bzw. seine Kultur in uns allen verankert. Wir müssen die deutsche Kultur nicht zurückholen, wir müssen sie weitertragen. Wir dürfen sie nicht für Zwecke benutzen, wir müssen sie als Allgemeingut betrachtet der Welt zur Verfügung stellen und ihre Schönheit sichtbar werden lassen. Beethoven gehört mir nicht, ich fühle keine besondere Verbindung zu ihm aus nationaler Verbundenheit. Aber ich habe die Verantwortung dafür übernommen, dass sein Werk, sein Leben nicht umsonst war und durch mein Spiel seinen Sinn behält und weiterlebt. Als Pianistin bin ich Teil eines Kollektivs, das die Kultur weiterträgt und am Leben hält und trotzdem ohne die Reduzierung auf einen Staat auskommt.


Das Deutschland, in dem ich aufgewachsen bin, ist herzlich, offen, bunt und hat die Größe, die Verantwortung für die Scham und Schande des zweiten Weltkriegs zu übernehmen und zu tragen und dennoch die ihm eigenen Schönheiten und Errungenschaften der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte mit Freuden zu präsentieren und zu leben. Politiker wie Herr Gauland, Herr Höcke, Frau Weidel und Co. bewerfen dieses Land und seine Bewohner, die Millionen Opfer der beiden Weltkriege und ihre Nachfahren mit noch mehr Schande und Schmutz, machen Deutschland nicht deutscher, sondern brauner, – ein Rückschritt um 70 Jahre in gerade einmal vier Jahren in einem Land, von dem man erwarten, zumindest hoffen könnte, es sich wünschen würde, ja sogar darum betteln möchte, doch bitte, bitte aus der eigenen Geschichte nachhaltig und wirksam zu lernen. Diese „Politiker“ sind nicht die Art von Politiker, die ich im Bundestag sitzen haben möchte und es ist nicht die Art von Denke, die ich meine Kinder später im Radio hören und in der Zeitung lesen wissen möchte.


Ich werde nicht jagen, aber ich werde kämpfen, und zwar jeden Tag: für ein friedliches, offenes, tolerantes Deutschland. Jeden Tag mein Umfeld gestalten und dem Rassismus mit den kleinen aber feinen mir zur Verfügung stehenden Mitteln entgegen treten.

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